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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD und Migrationspolitik Und dann schluckt er noch eine Kröte

Die Union will sich in der Migrationspolitik profilieren und der AfD den Rang ablaufen – das bringt aber die SPD in Erklärungsnot, was sie mit rhetorischer Akrobatik zu kaschieren versucht.
Der SPD-Abgeordnete Hakan Demir steht am Freitagmorgen hinter dem Rednerpult im Bundestag und tut etwas, wozu er so gar keine Lust zu haben scheint. Er verteidigt einen Gesetzesentwurf, den er eigentlich ablehnt: "Es ist kein Herzensanliegen der Sozialdemokratie, ganz im Gegenteil. Es müsste eigentlich unser Ziel sein, Familien leichter und schneller zu vereinen."
Stattdessen will Demirs SPD aber zusammen mit der Union den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte aussetzen. In ihrem Programm zur Bundestagswahl hat die SPD allerdings noch angekündigt: "Wir werden die Familienzusammenführung für subsidiär Schutzbedürftige weiterhin ermöglichen, da sie eine entscheidende Voraussetzung für eine gelungene Integration darstellt."
Die Sozialdemokraten brechen also ihr Wahlversprechen und müssen nun auf offener Bühne Kröten schlucken. Und beim subsidiären Schutz handelt es sich um keine Kleinigkeit, denn er betrifft laut dem Mediendienst Integration derzeit rund 380.000 Menschen in Deutschland.
Es geht um diejenigen Flüchtlinge, die nicht individuell verfolgt werden, aber trotzdem in ihrem Heimatland um ihr Leben fürchten müssten, etwa wegen Bomben und Bürgerkrieg. Diese Flüchtlinge dürften dem Gesetzesentwurf nach nur noch in Ausnahmefällen ihre Familien nach Deutschland holen.
Mehrfach rufen linke Abgeordnete dazwischen
Das sei keine abstrakte Debatte, sagt Demir, schluckt noch eine Kröte und erklärt, warum er den Familiennachzug eigentlich für sehr wichtig halte: Die Flüchtlinge "hoffen teils seit Jahren, ihre Liebsten wiederzusehen, ihre Ehepartnerinnen, ihre Ehepartner, ihre Kinder." Ferner kritisiert er seinen Vorredner Gottfried Curio von der AfD und wirft ihm vor, ein "Herz aus Stein" zu haben. Curio hat zuvor den schwarz-roten Gesetzesentwurf als "Mogelpackung" kritisiert, denn der Familiennachzug sollte seiner Meinung nach deutlich länger ausgesetzt werden, und syrische Flüchtlinge wieder zurück in ihre Heimat reisen, weil ihnen dort keine Gefahr mehr drohe.
Dass Demir und die SPD zwischen den Stühlen sitzen, müssen sie sich auch von der Fraktion der Linken anhören. Mehrfach rufen deren Abgeordnete in Demirs Rede dazwischen, werfen ihm Doppelmoral vor. Darüber hinaus hat die Linke im Bundestag einen Antrag zur Debatte gestellt, indem sie fordert, den Familiennachzug zu Schutzbedürftigen zu erleichtern, statt ihn auszusetzen.
Die Linken-Abgeordnete Clara Bünger sagt in ihrer Rede, was der Gesetzesentwurf von Union und SPD ihrer Meinung nach bedeute: "Kinder wachsen ohne Eltern auf, Menschen sterben, weil ihnen der legale Weg versperrt wurde, Familien leben in Angst und Hoffnungslosigkeit." Der Familiennachzug sei einer der letzten legalen Wege der Flucht und wenn die Regierung diesen schließe, treibe sie die Flüchtlinge in die illegale Migration, welche sie ja eigentlich reduzieren wolle. An die SPD gerichtet sagt sie: "Ich finde es ja schön, dass Sie sich für Familien einsetzen wollen, aber dann sage ich ganz klar, dann stimmen Sie diesem Gesetzentwurf nicht zu."
Beim Wort "Kompromisse" muss er tief Luft holen
Demir verteidigt sich gegen diese Kritik. In den Koalitionsverhandlungen seien nun mal "Kompromisse geschlossen worden", wobei er vor und nach dem Wort "Kompromisse" tief Luft holt. Den Familiennachzug auszusetzen, sei der SPD-Fraktion schwergefallen, schließlich sei der Schutz der Menschenwürde auch im Grundgesetz verankert. Die Sozialdemokraten wollen laut Demir das neue Gesetz daher so gestalten, dass es den deutschen und europäischen Werten möglichst gerecht werde.
Da die Rufe der Linkspartei trotzdem wieder aufbrausen, richtet er sich zum Schluss direkt an Clara Bünger und ihre Fraktion. "Was würde denn passieren, wenn wir all die Gesetze, die ihr hier kritisiert, einfach ablehnen, also den Koalitionsbruch hier in diesem Haus hätten? Nennen Sie uns eine Alternative, die jetzt besser wäre!"
Die Sozialdemokraten haben also kein Sachargument mehr, um diese Flüchtlingspolitik mitzutragen, sondern nur noch ein strategisches: Wenn nicht so, dann droht die Alternative, die AfD. Wie so oft will sich die SPD staatstragend geben, wirkt aber verzweifelt und ideenlos. Die eigene Politik erträgt sie nur mit Zähneknirschen. Fragt sich, wie lange sie es aushält, sich selbst so zu verneinen.
- Reporter vor Ort
- Wahlprogramm der SPD 2025
- mediendienst-integration.de: "Was bedeutet ein Stopp des Familiennachzugs?"