Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Das bringt Moskau mächtig ins Schwitzen

Russland bekriegt die Ukraine, doch in Moskau sorgt ein anderes Thema für erhitzte Gemüter bei den Bürgern. Meint Wladimir Kaminer.
Ich bin erstaunt über die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung unserer Zivilisation. Der technische Fortschritt und die Erfolge der Medizin haben unsere Lebensqualität ungemein verbessert. In den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern leben die Menschen heute besser als die Könige vor zweihundert Jahren, sie schlafen in gut beheizten Räumen und genießen drei Mahlzeiten am Tag.
Die Vielfalt der fettarmen Joghurts ist atemberaubend, die politischen Systeme hingegen sind im Wesentlichen gleich geblieben: Diktatur, Autokratie und Demokratie (mit Aussetzern). Selbst in den fortschrittlichen Demokratien Europas und Amerikas landen zufällige Menschen in den Machtetagen, darunter Manager, auch Spinner, zudem unter Aufmerksamkeitsdefizit leidende fröhliche Rentner mit Flausen im Kopf.

Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein neuestes Buch "Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen" erschien am 28. August 2024.
Diesen Zustand haben wir nicht zuletzt der ungleichmäßigen Entwicklung der Medizin zu verdanken. Der medizinische Fortschritt der letzten hundert Jahre war enorm: Antibiotika, künstliche Kniescheiben und Herzklappen, dazu können Organtransplantationen fast alle lebenswichtigen Funktionen des Körpers stützen.
Derart viele Hundertjährige gab es laut Statistik noch nie in der Geschichte der Menschheit. Doch in dieser fortschrittlichen Medizin geht es hauptsächlich um den Körper, der Kopf wird vernachlässigt und bleibt die Schwachstelle der Menschheit. Als Ergebnis dieser Entwicklung haben wir eine Situation, in der die mächtigsten und gefährlichsten Länder der Welt mit dem größten Atomwaffenarsenal ausgestattet sind: China, Russland, die USA werden von robusten über Siebzigjährigen regiert. Diese drei weisen eine gute Fitness auf, können reden und laufen, allerdings haben sie Flausen im Kopf und denken gar nicht daran, in Rente zu gehen.
Sie hören auf niemanden
Trotz der unterschiedlichen politischen Systeme in diesen drei Ländern – eine Demokratie mit Aussetzern, eine Diktatur und eine autokratische Regierung – neigen alle drei dazu, sich selbst als Nabel der Welt und der Weisheit letzter Schluss zu betrachten. Ihre Völker schweigen, die Stimmen des Zweifels sind kaum hörbar. Durch die Entwicklung des Internets sollten sich eigentlich alle Stimmen besser Gehör verschaffen können, doch das Gegenteil ist der Fall: Ein Meer von Stimmen verwandelt sich in weißes Rauschen, in eine unverständliche Geräuschwolke.
Fachliche Expertise wird von den regierenden Greisen nicht angenommen. Ab einem bestimmten Alter ist es einem egal, was die anderen denken. Und selbst wenn den Menschen erlaubt ist, eine eigene Meinung zu haben, interessiert ihre Meinung niemanden. Das Gespräch zwischen Politik und Gesellschaft findet dort nicht statt. Das beste Beispiel dafür lieferte in den letzten Monaten meine Heimatstadt Moskau: Obwohl das Land seit über drei Jahren einen Angriffskrieg im Nachbarland führt, der unzählige Menschen ins Jenseits beförderte, war seit April das alles beherrschende Thema in den sozialen Medien: die Heizung.
Aus einem schwer nachvollziehbaren Grund ist es den Moskauern nicht erlaubt, die Temperatur in ihren Wohnungen selbst zu regeln. Die Stadt hat ein zentrales Fernheizungssystem, das von der Stadtregierung auf direkten Befehl des Bürgermeisters zweimal im Jahr geregelt wird: Es wird also einmal an- und einmal ausgeschaltet. Das Einzige, das die Bürger selbst in die Hand nehmen dürfen, ist es, die Fenster zu öffnen und zu schließen.
Die Entscheidung über das Abschalten der Heizung richtet sich allerdings nicht nach den Wetterbedingungen, nicht nach der Position des Planeten Erde in seiner Umlaufbahn um die Sonne und auch keineswegs nach den Problemen der Bürger. Sie richtet sich allein nach den Flausen im Kopf des Bürgermeisters. Das führt dazu, dass es im Winter saukalt und im Sommer unerträglich warm ist, manchmal aber auch umgekehrt. Das Wetter spielt eben nicht nur in Deutschland verrückt. Und es wird jedes Jahr schlimmer.
Von oben nur Schweigen
Dieses Jahr begannen die Moskauer bereits im April zu stöhnen. Der Monat war sehr heiß gewesen, die Heizung lief aber auf vollen Touren. Das Internet füllte sich mit Briefen an die Stadtregierung und direkt an den Bürgermeister: "Sehr geehrter Sergej Semenowitsch," schrieben die verschwitzten Bürger sinngemäß. "Schauen Sie bitte aus dem Fenster, draußen sind es 27 Grad! Die höchste Messung seit Beginn aller Messungen! Die Vögel fallen vor Hitze von den Bäumen, die Katzen brutzeln auf Radiatoren, bitte schalten Sie die Heizung aus! Lieber Sergej Semenowitsch, lassen sie ihre Bürger nicht verkochen, das tut Ihnen doch nicht weh, eine Handumdrehung und die Heizung ist aus, bitte bitte!"
Die Regierung hörte die Signale nicht. Bedeutungsvolles Schweigen war die Antwort. Im Mai waren es dann plötzlich 6 Grad Celsius unter Null und Schnee. "Lieber, über alles geliebter Herr Bürgermeister", schrieben die Bürger. "Mit Ihrer weisen Entscheidung, die Heizung anzulassen, haben Sie noch einmal Ihre praktische Erfahrung und Ihren vorausschauenden Regierungsstil bewiesen. Wir waren ungeduldig, naiv, wir waren wie verheizt. Doch jetzt, wo der kalte Wind des Nordpols uns direkt ins Gesicht pustet, wollen wir uns für Ihre weise Führung bedanken. Wir sind absolut sicher, dass Ihre weiteren Schritte in Richtung Heizung von der gleichen Ausgewogenheit und Menschenkenntnis begleitet werden."
Eine Reaktion aus der Machtetage gab es wie immer nicht. Der Juni begann mit Hitze, die Heizung läuft, die Katzen brutzeln erneut auf den Radiatoren.